Nichts Neues in Kita und Schule

Alles dreht sich um die Jungs

Bei Eltern ist es vielleicht noch verständlich, wenn sie aus falsch verstandener Fürsorge ihre Kinder in alten Rollenklischees erziehen. Von ErzieherInnen und LehrerInnen erwarten wir aber zu Recht, dass sie Mädchen und Jungen gleich behandeln. Trotzdem wurde im Jahr 2010 in einem schweizerischen Kindergarten Folgendes beobachtet: Mädchen "werden für ihr Benehmen gelobt. Sie erhalten vor allem für ihr Aussehen Komplimente." (1)

 

Jungen dagegen werden im selben Kindergarten bereits zu künftigen "Leistungsträgern" erzogen:

"Die Fachperson ermuntert und lobt die Jungen und tut alles, damit sie die Aufgabe erfolgreich absolvieren. Die Mädchen hingegen sind auf sich selbst gestellt und erhalten weniger Lob für ihre Leistungen." (2)

 

Die Jungs bekommen Unterstützung und Anerkennung – und auch sonst dreht sich alles um sie: "Den Mädchen wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt, teilweise sind sie sogar unsichtbar. Die Fachperson geht nicht groß auf sie ein. Ihre Aufmerksamkeit ist stärker auf die Jungen gerichtet." (3)

 

Das ist nicht nur in der Kita, sondern auch in der Schule so: "Dieser Mangel an Aufmerksamkeit Mädchen gegenüber ist nicht nur in den frühkindlichen Institutionen anzutreffen. Das gleiche Verhalten ist auch bei LehrerInnen in der Schule zu beobachten." (4)

 

 

 

- auch die Mädchen

 

In gemischten Gruppen finden sich Mädchen als Zuschauer wieder. Anfangs noch mit einem guten Selbstbewusstsein ausgestattet, lernen sie, dass es normal ist, wenn Jungen ihnen die Show stehlen und generell als wichtiger betrachtet werden. Das geht solange bis auch die Mädchen den Jungen mehr als sich selbst zutrauen. Obwohl sie die besseren Leistungen in der Schule haben, glauben sie, dass Jungs schlauer sind.

 

Lin Bian zeigt in ihrer Studie aus dem Jahr 2017 ganz deutlich den "Lernprozess" der Mädchen von anfangs gutem Selbstvertrauen zu einem Gefühl der Minderwertigkeit:

 

"Die Psychologin Lin Bian und ihre Mitstreiter von den Universitäten in Illinois, New York und Princeton haben zum Thema vier Einzeluntersuchungen mit Mädchen und Jungen im Alter von fünf, sechs und sieben Jahren unternommen. Zunächst wurde 96 Kindern die Geschichte von einer Person erzählt, die sich „sehr, sehr schlau“ verhalten habe. Anschließend wurden ihnen Bilder von Männern und Frauen gezeigt, die alle gleich gut gekleidet und gleich attraktiv waren. Auf die Frage, welche dieser Personen die besonders schlaue Figur der Geschichte sei, tippten die kleineren Jungen und Mädchen allesamt eher auf eine Person ihres eigenen Geschlechts. (…) Das passt gut zur bekannten Tendenz von Kindern, das eigene Geschlecht in einem besonders positiven Licht zu sehen. Und es setzte sich bei den Jungen später fort: Auch die Sechs- bis Siebenjährigen hielten durchweg einen der abgebildeten Männer für den genialen Typen. Die älteren Mädchen allerdings hielten mehrheitlich dafür, dass die „smarte“ Person aus der Erzählung ein Mann sein müsse. Diese Befunde bestätigten sich in einer zweiten Studie mit 144 Kindern." (5)

 

Alle Welt ist von den kleinen Jungs derart überzeugt, dass auch diese sich für die Größten halten. Und die Mädchen? Die stehen staunend daneben und ziehen sich den Stiefel an, fleißiger, aber nun einmal weniger talentiert zu sein. 

 

Und genau da entsteht die innere Einstellung, die Frauen später im Berufsleben trotz hervorragender Leistungen ausbremst: Sie haben gelernt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, Männer dagegen, auch mit vergleichsweise geringen Leistungen zu glänzen. Jungen bekommen Förderung und Lob und entwickeln so genau die Art von Selbstvertrauen, die sie brauchen, um bei Konkurrenz aufzutrumpfen. Nur wer es schafft, sich gut zu verkaufen, hat bei gleichen Fähigkeiten die Chance zu gewinnen.

 

Mädchen verlernen nicht nur, mit Stolz auf ihre Leistungen hinzuweisen. Sie entwickeln auch die Angst, nicht mehr "fraulich" zu sein und die Fähigkeit zu ihrer "eigentlichen Bestimmung" zu verlieren: die Begleiterin des Mannes zu sein, durch ihn zu glänzen, ihn in den Mittelpunkt zu stellen und vor allem anderen: Vollblutmutter zu sein.

 

Aus Mangel an Selbstvertrauen halten sie dem beruflichen Wettbewerb nicht stand und besinnen sich dann im Zweifelsfall lieber auf das, von dem sie glauben, dass es ohnehin mehr ihren Fähigkeiten entspricht: Ehefrau und Mutter zu sein.

 

Mädchen werden in unserer Gesellschaft systematisch ihres Selbstwertgefühls beraubt und so auf ein Leben in der zweiten Reihe vorbereitet. Das ist der ideale Nährboden für unsere Vorstellung von der Liebe als Schlaraffenland. Hier gibt es dann Anerkennung, Liebe, und ein erfülltes Leben mit dem "Richtigen".

 

Statt uns selbst zu vertrauen, sollen wir i h m vertrauen. Und das am besten blind.

 

 

(1) Véronique Ducret & Véronique Le Roy: Nicos Puppe und Sophies Lastwagen. Handbuch für die

     Beobachtung von Interaktionen zwischen pädagogischen Fachpersonen, Eltern und Mädchen und   

     Jungen.

     https://www.mmi.ch/files/downloads.php?file=2d0ad03fec20122b33c261724e5f3136&name=Brosch 

     %C3%BCre%20%22Nicos%20Puppe%20und%20Sophies%20Lastwagen%22.pdf.

     Zugriff 04.12.2019, S. 16

 

(2) Ebd. S. 15

 

(3) Ebd. S. 13


(4) Ebd.

 

(5) Adelheid Müller-Lissner: Früh gelernte Stereotypen. Schon sechsjährige Mädchen denken bei einer

    "schlauen Person" eher an einen Mann. https://www.tagesspiegel.de/wissen/gender-frueh-gelernte-

    stereotypen/19319288.html. Zugriff 26.03.2018

 

 

© 2019 Irene Goldmann