Gefühl statt Kalkül

Heiraten? - Nur aus Liebe!

Des Geldes wegen heiraten – oder gar einen Mann, den die eigenen Eltern ausgesucht haben – absolut unmöglich für die meisten Frauen in Europa und Nordamerika. Nein, wir heiraten aus Liebe! Und glauben, das müsse doch inzwischen auch für alle anderen gelten...

 

Weltweit spielt allerdings die Liebe bei vermutlich mehr als der Hälfte der Hochzeiten keine Rolle! (1)

 

Da geht es überwiegend darum, voreheliche Schwangerschaften zu verhindern, sich mit einer anderen Familie oder Gruppe zu verbinden und den eigenen sozialen Status zu festigen. Oder in ärmeren Schichten, die Tochter als zusätzlichen Esser gegen Geld oder Ware "loszuwerden": "Es geht um den Ausbau von familiären Strukturen, um die Sicherung von Einfluss und Macht, es soll zusammenwachsen, was zusammengehört, die Reichen bleiben unter Reichen, die Armen unter Armen." (2)

 

In Gesellschaften, in denen das Individuum innerhalb von Familie oder Clan eine untergeordnete Rolle spielt, heiraten eben nicht nur Mann und Frau, sondern Gemeinschaften. Die Bedürfnisse des Einzelnen, seine Gefühle und Präferenzen sind vergleichsweise unwichtig.

 

Der gesellschaftliche und familiäre Druck auf die jungen Leute ist dabei unterschiedlich stark. Er kann so groß werden, dass – wie z.B. in der Zwangsheirat die Ehe ganz ohne Einverständnis von Braut und Bräutigam geschlossen wird. Meist sind es die häufig sehr jungen Mädchen, die gegen ihren Willen verheiratet werden: "Weltweit leben nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) mehr als 700 Millionen Frauen, die im Mädchenalter zwangsverheiratet wurden." (3)

 

In streng patriarchalen Kulturen ist eine Frau rechtlos. Bei der Eheschließung wird sie schlicht aus der Gewalt des Vaters in die des Ehemannes übergeben. Das ist oft auch dann der Fall, obwohl offiziell die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Verfassung verankert ist. Und dann sind die Grenzen zwischen Zwang und Zustimmung fließend...

 

Die arrangierte Ehe ist die "mildere" Form der Verheiratung - und die häufigste Verbindung in der Türkei: "Nur eine von drei Frauen in der Türkei hat 2016 ihren Ehemann selbst ausgewählt. Das geht aus der Studie "Jugend in Statistiken 2016" des Türkischen Statistik-Instituts (TÜIK) hervor. 45 Prozent der Frauen und Mädchen zwischen 15 und 24 Jahren heirateten demnach einen Partner, den die Familie für sie ausgesucht hatte." (4)

 

In Indien ist der Anteil arrangierter Ehen noch höher: "Bis heute werden die allermeisten Ehen, Schätzungen sprechen von 90 Prozent, in Indien arrangiert. Dabei suchen die Eltern im Freundeskreis, unter Verwandten oder über Heiratsbörsen." (5)

 

Auch in China sind Eltern - und andere Verwandte - bei der Wahl des Ehepartners für den Nachwuchs sehr aktiv: "Sonntag ist Markttag im Himmelstempel-Park in Peking. Es wird geschachert und angepriesen: "Frau, Jahrgang 1988, 168 Zentimeter groß, 55 Kilo, Krankenschwester" steht auf einem Zettel, der in einer Reihe mit vielen anderen DIN-A4-Blättern auf dem steinernen Boden liegt. Ein Mann Mitte 50 liest das Angebot genau und scheint interessiert. "Mein Sohn", sagt er und streckt der Frau, die hinter dem Papier auf einer kleinen Mauer sitzt, ein Foto hin. Die Eltern versuchen, ihre Kinder zu verkuppeln." (6)

 

Anders als in der Zwangsehe wird in der arrangierten Ehe Tochter oder Sohn eine wohlkalkulierte Auswahl an "geeigneten" Partnern vorgeschlagen. Und je nach Aufgeschlossenheit der Eltern ein "Nein" akzeptiert. Wer sich vorher schon verliebt hat, kann nur noch auf die Zustimmung der Eltern hoffen: "Deshalb ist das erste Treffen mit den Eltern ausschlaggebend. Sollte der Partner nicht gebilligt werden, kommt es zum Abbruch der Beziehung auch dann, wenn Gefühle vorhanden sind." (7)

 

Gesellschaften, die wie unsere das Individuum mit seinen Wünschen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellen, überlassen die Wahl des Partners von Anfang an den Betroffenen. Dass mancher davon überfordert ist, zeigt eine Serie des Senders TLC aus dem Jahr 2015: In "Married by Mom and Dad" übertragen heiratswillige amerikanische Frauen und Männer ihren Eltern die Auswahl des Ehepartners. Ihrer Meinung nach wüssten "Mom" und "Dad" was am besten für sie ist. 

 

In Deutschland suchen im TV-Format: "Hochzeit auf den ersten Blick" psychologische Fachleute den jeweils passenden Lebensgefährten aus. Und auch die Suche nach Mr. oder Mrs. Right auf Datingportalen im Internet setzt eher auf das Matching nach Persönlichkeitstests als auf die schicksalhafte Begegnung mit dem Seelenpartner.

 

Liebe und Ehe gibt es in allen Gesellschaften der Welt. Inwieweit aber die Liebe in einer Ehe eine Rolle spielt, variiert je nach kultureller Vorstellung. Sie kann Voraussetzung für eine Heirat sein, sich im Laufe der Ehe entwickeln – oder auch einfach ausbleiben.

 

Egal ob in Indien, der Türkei oder Westeuropa: Jede Gesellschaft betrachtet dabei die ihr eigene Beziehungskultur als Ideal und als überlegen gegenüber anderen – mit dem Argument, dass sie wahlweise der von Gott gewünschten Ordnung oder der "Natur" des Menschen entspräche.

 

Das ist auch bei uns mit dem Ideal der Liebesheirat so. Verliebtheit ist d a s Ausschlusskriterium für die Partnerwahl und die gleichbleibend stabile und enge Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau - zumindest offiziell - d i e Basis der Ehe. Das, was wir heute als selbstverständlich und nur "natürlich" betrachten, gibt es aber auch in Deutschland erst seit relativ kurzer Zeit. Genauer gesagt seit dem 19. Jahrhundert.

 

 

Wie die Liebe in die Ehe kam

 

Dass bei uns heute aus Liebe geheiratet wird, verdanken wir vor allem den gesellschafts-politischen Veränderungen im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts.

 

Mit der Entmachtung der Aristokratie und der Entstehung von Nationalstaaten brechen alte Gesellschaftsstrukturen auf. Arbeiterschaft und Bürgertum werden zu neuen maßgeblichen Klassen. Die Aufklärung lenkt den Blick auf die Bedürfnisse des Individuums. Seine Freiheit wird zur Basis der Grundrechte. Und vom Gleichheitsprinzip der Menschen profitieren ganz allmählich auch die Frauen.

 

Genau diese beiden Punkte - Individualismus und Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern - sind Voraussetzung für eine Liebesheirat: Denn nur dort, wo Gleichberechtigung herrscht, ist das Einverständnis der Frau genauso wichtig wie das des Mannes: "Die von zwei Familien arrangierte Eheschließung wird gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr zum Ärgernis, weil sie die Vorlieben und Neigungen der betroffenen Individuen übergeht. Eine solche (…) aufgezwungene Verbindung scheint den beiden neuen Rechten zu widersprechen: dem Recht auf Glück und der individuellen Freiheit." (8)

 

Die Gefühlswelt des Menschen erfährt jetzt Beachtung – auch in Bezug auf Ehe und Familie.

 

Romantik und Bürgertum etablieren die Liebe als Grundlage ehelicher Verbindung – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

 

Die romantische Liebe

 

Als Gegenbewegung zum Rationalismus der Aufklärung emanzipieren Schiller und Goethe die Macht des Gefühls. Die Figuren in ihren Werken werden nicht nur von Leidenschaften ergriffen, sie lassen sich bewusst von ihren Emotionen leiten.

 

In einer Zeit, in der alte Bezugsrahmen wegfallen, wird das Gefühl zur Orientierung, zum ultimativen Ausdruck der eigenen Individualität. Was der Einzelne will, wonach er strebt, wird zur Grundlage seiner Entscheidungen.

 

Genauso wichtig wird der Gleichgesinnte: Die Freundschaft bekommt in dieser Zeit eine Gefühlstiefe, die später auch für die Liebe modellhaft wird: Das Herbeisehnen des Freundes, die Reflexion und Steigerung der eigenen Gefühle, ihr überschwänglicher Ausdruck in Briefen und Tagebüchern - all das findet sich in der romantischen Liebe wieder.

 

Ebenfalls in der Romantik entsteht die Auffassung von dem e i n e n Partner - dem "Richtigen": "Die Vergötterung des Liebesobjekts fügt sich so in den romantischen Glauben an die "eine, ewig und einzig Geliebte" – gleich einer monotheistischen Liebesreligion. "Wir sind unsterblich wie die Liebe," so Schlegel in der Lucinde, "es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unserer Geister, nicht bloß für diese Welt, sondern für die eine wahre, untheilbare, namenlose, unendliche Welt, für unser ganzes ewiges Seyn und Leben."" (9)

 

Das Ideal einer allumfassenden spirituell-leidenschaftlichen Verbindung zwischen Mann und Frau jenseits von materiellen oder praktischen Erwägungen wird von den Romantikern als entschieden anti-bürgerlich gefeiert - genauso wie ihre Forderung nach der Liebesheirat als einzig akzeptabler Form der Eheschließung.

 

In der bürgerlichen Ehe  wird es "emotional"

 

Doch auch im Bürgertum setzt sich ein neuer Umgang mit Gefühlen durch – allerdings aus anderen Gründen: "Das Bildungsbürgertum grenzte sich u.a. durch eine polarisierte Gegenüberstellung des Umgangs mit Emotionen vom Adel ab. Während der Adel von ihm auf emotionalem Gebiet durch Verstellung und Maskerade charakterisiert wurde, definiert sich das Bildungsbürgertum selbst über seine "natürlichen" und "authentischen" Emotionen." (10)

 

Und so entsteht ein regelrechter "Gefühlskult". Die Reflexion der eigenen Empfindungen in Tagebüchern und Briefen ist en vogue und verleiht auch der Verbindung zwischen Mann und Frau eine neue Dimension: ""Vor diesem Hintergrund konzentrierten sich bürgerliche Paare mit zum Teil erstaunlichen Energien auf die Entdeckung der anderen Persönlichkeit (…). Bei jeder kürzeren Trennung schrieben sie einander selbst nach vielen Ehejahren regelmäßig Briefe und verfassten bei längerer Abwesenheit regelrechte Tagebücher, um sich einander mitzuteilen, um sich zu verstehen und auch um verstanden zu werden."" (11)

 

Auch wenn im 19. Jahrhundert nach wie vor arrangierte Ehen in der Mehrzahl sind: "Um die Tochter gut "versorgt" zu wissen, sind Rang und Namen des Mannes entscheidend, nicht die Liebe. Die Töchter werden von den Eltern gedrängt, meistens sogar gezwungen, möglichst schnell eine günstige Heiratsgelegenheit zu ergreifen, denn die Konkurrenz ist groß: Über die Hälfte aller Frauen zwischen 15 und 50 Jahren ist nicht verheiratet." (12), gibt es zunehmend Ehen, in denen die Liebe regiert:

 

"Bildungsbürgerliche Frauen und Männer wiesen sich gegenseitig auf das Besondere ihrer Beziehung hin, indem sie dieser andere, unglückliche Verbindungen gegenüberstellten. Dabei sahen sie als Grund für ihre glückliche Beziehung deren auf Liebe und nicht auf materiellen Erwägungen basierendes Zustandekommen an. (…) Zum Ziel der Ehe wurde das beiderseitige Glück erklärt und nicht eine funktionierende Arbeitsgemeinschaft". (13)

 

Dass nun allmählich die Liebe der Grund für eine Eheschließung sein soll, stellt für Frauen eine unschlagbare Errungenschaft dar: Jetzt werden ihre Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigt. Durch eine Liebesheirat steigen ihre Chancen auf emotionale und sexuelle Befriedigung. Im gegenseitigen Austausch der Gedanken und Gefühle begegnen sich Mann und Frau auf Augenhöhe und verstehen sich in den folgenden Jahrzehnten zunehmend als ebenbürtig.

 

Und auch in rechtlicher Hinsicht emanzipiert sich die Frau aus der Vormundschaft von Vater und Ehemann: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts können Frauen in Deutschland selbständig Rechtsgeschäfte tätigen.

 

(1) Nach einer 2018 veröffentlichten Studie sogar zu 53,25 Prozent. Siehe: Sarah-Louise Kearney:

     Over 50% of world marriages are arranged say new statistics, 12. Februar 2018,

     https://www.desiblitz.com/content/world-marriages-arranged-statistics, Zugriff 11.04.2020

 

 (2) Hasnain Kazim: Plötzlich Pakistan. Mein Leben im gefährlichsten Land der Welt. Zitiert nach: Heirat 

     aus Liebe? Besser nicht! 08.09.2015,

     https://www.spiegel.de/politik/ausland/heiraten-in-pakistan-hochzeit-aus-liebe-besser-nicht-

     a-1049960.html, Zugriff 31.08.2020

 

(3) Unicef: Weltweit 700 Millionen Frauen zwangsverheiratet. 20.07.2014,

     https://www.welt.de/newsticker/news1/article130444550/Unicef-Weltweit-700-Millionen-Frauen-

     zwangsverheiratet.html, Zugriff 07.09.2017

 

(4) Lena Glöckner: Nur jede dritte Frau im Land wählt selbst: Türkin spricht über arrangierte Ehen.

     http://www.focus.de/politik/ausland/ergebnisse-einer-neuen-studie-kinderbraeute-und-zwangsheirat-

     tuerkin-erzaehlt-wie-mittelalterlich-ihr-herkunftsland-tatsaechlich-ist_id_7151759.html,

     Zugriff 07.09.2017

 

(5) Christine Möllhoff: Eine gute indische Ehe ist eine arrangierte Ehe.

     http://www.rp-online.de/politik/eine-gute-indische-ehe-ist-eine-arrangierte-ehe-aid-1.5684930

     Zugriff 07.09.2019

 

(6) Amelie Richter: Heiraten um jeden Preis In China möchte man kein Single sein, 27. Dezember 2017,

      ttps://www.n-tv.de/panorame/In-China-moechte-man-kein-Single-sein-article 19419821.html

      Zugriff 31.03.2020

 

(7) Patrick Müsker: Heirat und Ehe im städtischen China. Traditionen, gesellschaftlicher Normenwandel

      und gegenwärtige Alternativen. Masterarbeit. München 2014, S. 26

 

(8) Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute,

     München 1981, S. 139

 

(9) Irma Gleis: der romantische Liebesentwurf. In: Journal für Psychologie. Theorie. Forschung. Praxis.

     Jg 15 (2007), Ausgabe 1: Liebe und Freundschaft, S. 23,

     https://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/121/259, Zugriff 16.09.2019

 

(10) Kornelia Bähre: Frauen als Liebende. Eine Untersuchung über den Zusammenhang zwischen dem               Emotionskomplex "Liebe" und der Identitätsbildung von Bildungsbürgerinnen in der ersten Hälfte des

     19. Jahrhunderts. Osnabrück 2001, S. 60

     https://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/dissts/Osnabrueck/Baehre2002.pdf, Zugriff 18.09.19

 

 (11) A.-C. Trepp: Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls:

    Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters. In: M. Hettling und S.- L. Hoffmann (Hg.):

    Der bürgerliche Wertehimmel. Innenasichten des 19. Jahrhunderts. Zitiert nach: Reinhard Spree:

    Geschlechterverhältnis und bürgerliche Familie im 19. Jh. 21. Februar 2011

    https://rspree.wordpress.com/2011/02/21/geschlechterverhaltnis-und-burgerliche-familie-im-19-

    jh/#ftn98, Zugriff 01.02.2019

 

(12) Kuhn (Hrsg.): Die Chronik der Frauen. Gütersloh 1992, S. 341

 

(13) Cornelia Bähre: Frauen als Liebende. S. 232/233

 

 

© 2019 Irene Goldmann