Die Liebe als "Schlaraffenland"

Der "Richtige"

In unserer Vorstellung von der Liebe als "Schlaraffenland" wird die zentrale Rolle des Mannes im Leben einer Frau mit neuen, modernen Argumenten weiter geführt:

 

Diesmal geht es anders als in der Vergangenheit weniger um gesellschaftliche oder juristische Fragen der Verbindung zwischen Mann und Frau, sondern vordergründig um persönliches Glück, Selbstverwirklichung, Unterstützung und Verständnis. Der "Richtige" vereint "traditionelle" Elemente mit den Vorzügen des emanzipierten Mannes: Als Ernährer der Familie sorgt er weiterhin für eine verlässliche finanzielle Basis. Er arbeitet im Haushalt und kümmert sich auch um die Kinder. Jetzt wird  es für seine  Frau möglich, Karriere zu machen ohne auf Kinder zu verzichten.

 

Und weil sein Tag hundert Stunden hat, kommt auch die gemeinsame Beziehung nicht zu kurz:  Lange Gespräche und tolle Unternehmungen – er ist der beste Freund seiner Frau! Auch nach Jahrzehnten ist der Sex mit ihm noch fantastisch...

 

Verlässlichkeit, Verständnis und das Prickeln erotischer Abenteuer - der "Richtige" bietet das Gesamtpaket.  Alle, auch die widersprüchlichsten Anforderungen werden von ihm erfüllt. Die Beziehung zu ihm wird zur emotionalen Rundumversorgung für seine Frau, ein Schlaraffenland der modernen Möglichkeiten, eine Insel der Glückseligkeit fern jeder Realität…

 

Wie wir wissen, sieht die ganz anders aus:  Ernährer der Familie sein und sich intensiv um Haushalt und Kinder kümmern ist in der deutschen Arbeitswelt für Männer nicht vorgesehen. Und der bad guy hat in erotischer Hinsicht einiges drauf, aber eben nicht in Sachen Verständnis und kuscheliger Geborgenheit.

 

Warum hängen wir trotzdem an dieser vollkommen unrealistischen Vorstellung von der Liebe als einer Art Schlaraffenland?

 

Die moderne Frau will alles ...

Tatsächlich sind die Möglichkeiten von Frauen, ihr Leben zu gestalten heute vielfältiger denn je. Was zur Folge hat, dass sie den Eindruck bekommen, sie könnten alles und alles gleichzeitig verwirklichen: Kinder und Karriere haben, Geborgenheit und erotische Spannung und einen gutverdienenden, beruflich erfolgreichen Mann, der nebenbei auch noch den Haushalt wuppt.

 

Jetzt könnten sich Frauen auf gesellschaftspolitischer Ebene dafür einsetzen, dass sie  ihre neuen Möglichkeiten auch Wirklichkeit werden. Indem sie sich z.B. solidarisieren und für kostenlose Kita-Plätze und bessere Gehälter kämpfen. Das tun sie aber nicht. Sie bleiben innerhalb der bestehenden Strukturen und versuchen, i n  und d u r c h ihre Beziehungen das neue Potenzial zu entfalten. Sie bleiben im Privaten und wenden sich mit ihren gestiegenen Ansprüchen an ihre Partner. Der Mann wird zum Glücksbringer seiner Frau.
 

Er soll ihre Bedürfnisse nach einem Leben voller Sinn und Selbstverwirklichung befriedigen. Und weil er sich, wenn er denn der "Richtige" ist, umfassend um sie kümmert, braucht sie es selbst nicht mehr zu tun.  Gelernt hat sie es ohnehin nie. Sie ist unfähig, ihre eigenen Bedürfnisse zu kennen, geschweige denn, sie zu befriedigen. Was sie aus dem Effeff beherrscht, ist, sich um andere zu kümmern. Sie tut es in der Hoffnung, dass diese es im Gegenzug auch für sie tun. Deshalb sind Beziehungen generell und das Zusammensein mit dem  "Richtigen" essenziel für sie. Ohne könnte sie in emotionaler Hinsicht gar nicht überleben: Ihr fehlt das grundlegende Gefühl, sich selbst als wertvoll zu empfinden.

 

... und braucht dafür einen Mann

In meinem 2009 erschienen Buch „Liebe dich selbst, sonst liebt dich keiner“ gehe ich ausführlich darauf ein, woher die Unfähigkeit der Frauen, sich um sich selbst zu kümmern, herrührt.

 

Damals konnte ich anhand zahlreicher Studien belegen, dass  Mädchen und Jungen in Bezug auf die Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse und die Entwicklung von Selbstbewusstseins unterschiedlich erzogen werden: Während Jungen in ihrem Selbstwertgefühl bestärkt werden und man sie darin unterstützt, sich mit ihren Bedürfnissen durchzusetzen, lernen Mädchen, dass die Beziehung zu anderen wichtiger ist als die Durchsetzung ihrer Interessen. Das entfremdet sie von ihren eigenen Bedürfnissen. Nicht mehr zu wissen, was man braucht und will, und nicht dafür kämpfen zu dürfen, schwächt das Selbstwertgefühl der Mädchen.

 

Als erwachsene Frauen bleibt ihnen dann nur, den Umweg über den Mann zu nehmen: Das möglichst enge Zusammensein mit dem "Richtigen" soll ihr Minderwertigkeitsgefühl heilen. Erst dann können Glück und das Gefühl, wertvoll zu sein, in ihr Leben einziehen. Doch in Wirklichkeit hintertreibt die größtmögliche Nähe zum Mann die Entwicklung zu mehr Selbstbewusstsein. Jedes Mal, wenn er sich seiner Partnerin entzieht, wirft er sie in Minderwertigkeitsgefühle zurück. Sie bleibt von ihm abhängig. Und er nimmt ihr spätestens dann diese Abhängigkeit übel, wenn sie ihn daran hindert, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Im Gegensatz zu ihr hat er gelernt, auf sie zu hören.

 

Er trifft sich mit Freunden zum Sport, er bleibt länger im Büro, er chillt vor dem Fernseher. Er sorgt selbst dafür, dass er ein interessantes Leben hat und genügend Entspannung bekommt. Und er sieht auch nicht ein, das zu ändern. Es entsteht ein Teufelskreis aus Abhängigkeit der Frau und Distanzierungsversuchen des Mannes: Eine intelligente, tolle junge Frau bombardiert ihren  Freund mit WhatsApp-Nachrichten in der Hoffnung, dass er sich endlich meldet. Ein falsches Wort von ihm stürzt sie in eine Krise. In stundenlangen Gesprächen mit ihren Freundinnen versucht sie, sein Verhalten zu interpretieren und mit seinem Rückzug auf sich selbst zu Recht zu kommen.

 

Die Beziehung, die doch ihren Mangel an Selbstwertgefühl heilen sollte, zerstört es jetzt erst recht. Ihre Abhängigkeit nimmt zu. So lange, bis sie sich schließlich trennt und mit einem anderen vermeintlich "Richtigen" dasselbe Spiel von vorne beginnt. Sie träumt weiter vom Schlaraffenland.

 

Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen müssen Mädchen endlich lernen, Selbstbewusstsein zu entwickeln und aus der zweiten Reihe nach vorne zu treten. Aber: erkennen Eltern und Pädagogen diese Notwendigkeit? Hat sich ihr Verhalten geändert? Sind sie heute – zehn Jahre nach Erscheinen meines Buches - besser in der Lage, Mädchen zu unterstützen?

© 2019 Irene Goldmann